In unserer Werkstatt bei Prodia in Aachen fühlt es sich inzwischen an, als wäre der erst Lockdown schon ewig her. Aber, als an diesem 18.03.2020 nach einem sehr aufregenden Tag alle Uhren neu gestellt werden mussten, war es hier sehr still, wo ansonsten in jeder Ecke ein buntes Treiben herrschte.
Die Auswirkungen des „echten“ Lockdown von rund sechs Wochen im Jahr 2020 sowie den folgenden Monaten bis zum Mai 2021, als ein „Werkstattleben Light“ stattgefunden hatte, ist vermutlich für viele Menschen außerhalb eines Werkstattalltags schwer zu verstehen.
Nachfolgend Fragen und Rückmeldungen unserer Teilnehmer*innen und Beschäftigten aus ihrer Gefühlwelt während der ersten Zeit erreichten uns:
- Warum darf ich nicht kommen? Ich verstehe das nicht.
- Ich habe seit drei Tagen nur Joghurt gegessen; kann ich nicht wenigstens zum Essen kommen.
- Diese blöde Quarantäne im betreuten Wohnen, ich darf nur aus dem Fenster gucken, aber ich will endlich wieder raus!
- Wenn ich eine Maske trage, bekomme ich keine Luft und eine Panikattacke.
- Ich habe Angst vor diesem Corona.
Viele dieser Punkte hören sich an, als wenn sie von einem Nachbarn, einer Nachbarin kommen, aber für unsere betreuten Menschen hatte sich das oft lebensbedrohlich angefühlt, da jegliche Tagesstruktur und jede Form von Entlastung in ihrem Leben weggebrochen war.
Unsere 230 Teilnehmer*innen und Beschäftigte waren von einem auf den anderen Tag
- ohne das Prodia-Netz, dass sie trägt,
- ohne ihr gewohntes Umfeld,
- ohne die Gruppenleiter*innen als An- und Gesprächspartner*innen vor Ort mit immer offenen Ohren,
- ohne die Sozialpädagog*innen, die gefühlt immer eine Lösung für jedes Problem finden,
- ohne die Werkstattkolleg*innen, mit denen sich auch gestritten werden kann,
- ohne die Scherze vom Nachbararbeitsplatz,
- ohne Arbeitsauftrag und Tagesstruktur,
- ohne Entlastungs- und Spielerunden, wenn innerer Stress aufkommt,
- ohne Sicherheit und klare Strukturen, die unsere Autisten benötigen,
- ohne ein regelmäßiges Mittagessen, das zu einer festen Uhrzeit bereitsteht,
- in Sorge, dass die Werkstattprämie – Gehalt der Beschäftigten – gekürzt wird oder ganz wegfällt,
Dafür gab es sofort neue Regeln, die nicht im gewohnten Umfeld trainiert werden konnten. Für unsere betreuten Menschen bedeuteten die vielen neuen Regeln in ihrem persönlichen Umfeld und den Strukturen des täglichen Lebens ein enormes Stresspotenzial.
Hier nur einige:
- Die Gruppenleitungen waren nur noch telefonisch erreichbar und durften nur im Notfall einen persönlichen Besuch vornehmen.
- Es gab Hausaufgaben – Bildungspakete -, die alleine bewältigt werden mussten.
- Unsere Teilnehmer*innen und Beschäftigten mussten Nahrungsmittel für das Mittagessen einkaufen und selber zu bereiten.
- Es gab einfache Rezepte zum Nachkochen; hierzu waren oft die Lebensmittel nicht vorhanden und der Weg zum Supermarkt mit Angst behaftet.
- Das Tragen von Masken führte teilweise zu weiteren Störungen.
- Aufstehen, egal wann, „es nervt ja keine Gruppenleitung, dass ich zu spät oder gar nicht komme“ löste ein gestörtes Tag-Nacht-Verhalten aus.
- Suchtverhalten wurde ausgelebt, ohne dass es unmittelbar am kommenden Tag auffiel.
Dann gab es die Phase des Zurückkommens in die Werkstatt. Diese Zeit war mit viel Freude, aber auch mit großen Ängsten besetzt.
- Große Freude und viele lachende Gesichter auf allen Seiten; allein, wegen des persönlichen Kontaktes, der auf Abstand wieder möglich war.
- Angst sich in der Werkstatt oder im Bus mit Corona anzustecken.
- Schichtdienst in unterschiedlichen Konstellationen.
- Wann muss ich jetzt kommen? Was passiert, wenn ich zur falschen Schicht in die Werkstatt komme?
- Große Abstände zu den Werkstattkolleg*innen.
- Pausenaufsicht, um die Abstände einzuhalten.
- Beklebte Flure mit Pfeilen und weitere Abstandsregeln.
- Kein gemeinsames Mittagessen, stattdessen zusätzliche Dienste für den Hol- und Bring-Service, um in den kleinen Gruppen zu essen.
Leben mit Corona geht auch
Inzwischen gibt es wieder Bilder wie die, die auf dem Weg zu unserer neuen Homepage entstanden sind. An viele Regeln haben wir alle uns gewöhnt, unsere Impfquote liegt bei mehr als 90 % und vieles von unserem Werkstattalltag ist wieder vorhanden. Ich finde die Bilder sprechen für sich.
Mariele Biesemann